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Kein öder Land

Corona und Kultur. Ein Artikel der digitalen Ausgabe der Süddeutschen Zeitung vom 04.01.2022. Von Christine Dössel.

Wer in diesen Zeiten noch ins Theater geht, macht je nach Bundesland unterschiedliche Erfahrungen. Neulich im Deutschen Schauspielhaus Hamburg: ein Theaterbesuch, der sich tatsächlich wie ein solcher anfühlte. So richtig mit Menschen und Gesumms, Sitznachbarn links und rechts und dem unvermeidlichen Großkopf vor einem. Wer hätte gedacht, dass man sich über den mal freuen würde. Auf dem Spielplan im vollen Haus: "Richard the Kid & the King" als 2-G-Vorstellung ohne Abstand. Das ist in Hamburg nicht alltäglich, aber möglich.

Also sitzen da lauter Geimpfte oder Genesene, zwar mit Maske - die ist Pflicht -, aber eben doch reihenfüllend Seit an Seit, was überhaupt erst diese typische Theatertemperatur, die Chemie des Miteinander-im-Raum-Seins ausmacht. Und weil die gefeierte Lina Beckmann so hundsgemein gut ist als Richard III., war der Abend tatsächlich infektiös. Gemeint ist nicht das Coronavirus. Gemeint sind die Funken, die im Raum sprühten; die Energie, mit der sich da etwas von menschlicher Abgründigkeit übertrug. Wenn Theater gut ist, fährt es direkt in die Körper. Dann besteht Ansteckungsgefahr. Für Herz und Hirn, oder sei es auch nur für die akut gereizten Sinnesorgane.

Am schlimmsten trifft es freie Szene und private Veranstalter

Am selben Abend waren Bekannte im Münchner Residenztheater und sahen Max Frischs "Graf Öderland". Auch hier ausverkauftes Haus. Mit dem Unterschied, dass von den 881 Plätzen nur 25 Prozent belegt waren, also etwa 220. Jede zweite Reihe leer und zwischen zwei "Haushalten" noch mal zwei Plätze frei. So verlangen es bei zusätzlicher 2-G-plus-Regel die Corona-Auflagen in Bayern, die strengsten bundesweit. Die Atmosphäre "wie in einem Bahnhofswartesaal", so die Bekannten, dreifach geimpfte, schon aufgrund ihres Alters in Bezug auf Corona sehr vorsichtige Menschen. Sie sind Kulturliebhaber, die (noch) regelmäßig ins Theater, in Konzerte und ins Kino gehen. Obwohl es ihnen von der Politik immer schwerer gemacht, ja, geradezu vergällt wird.

2G plus heißt: Wer nicht seit mehr als 14 Tagen geboostert ist, muss einen aktuellen Antigen-Schnelltest vorweisen, wenn er in eine Kulturveranstaltung will. Drei Viertel der Sitze zwangsleer, Abstands-Platzierung, FFP2-Maskenpflicht während der Vorstellung, all das kommt in Bayern als Auflage für Bühnen-, Kino- und Konzertbesuche noch obendrauf - als gelte es, die Kultur zu verhindern.

Die Gefahr: Das Publikum wird entwöhnt

Am schlimmsten trifft es die freie Szene und die privaten Veranstalter. Bei einer Maximalauslastung von 25 Prozent zu spielen, macht für sie ökonomisch keinen Sinn. Es ist ein De-facto-Lockdown. Angesichts proppenvoller Bahnen, Restaurants und Skilifte wirken die Maßnahmen unverhältnismäßig. Dazu das Regelwirrwarr im ganzen Land. Wer blickt denn noch durch, was wann und wo gilt? Kein Wunder, wenn Zuschauer abwinken und auf ihrer Couch verharren. Die nächste Netflix-Serie läuft schon an. Und die livehaftige Kultur? Darbt - und stirbt bereits im Kleinen - am ausgestreckten Arm einer falschen, empathielosen Corona-Kulturpolitik.

Theater sind keine Corona-Hotspots. Dass das Infektionsrisiko im Kulturbereich äußerst gering ist, haben seit Anfang der Pandemie genügend Studien wissenschaftlich nachgewiesen. Die Bühnen haben sehr viel Geld in Belüftungs- und Filteranlagen investiert und ausgefeilte Hygienekonzepte entwickelt. Fun Fact: Selbst die notorischen Huster im Parkett gibt es seit Corona nicht mehr (wahrscheinlich, weil sich keiner mehr zu husten traut). Warum sollte sich jemand in einem Theater- oder Kinosaal, mit FFP2-Maske stumm nach vorne schauend, eher anstecken als in der vollen Kneipe nebenan? Logisch sind diese Regeln nicht. Aber existenzbedrohend. Nicht nur wegen der Besucher- und Einnahmeverluste, auch weil das Publikum sich langsam aber sicher entwöhnt.

Die Orte der Fantasie - auch sie gehören zur Immunabweh

Theater sind Orte des gemeinsamen Nachdenkens und Erlebens. Orte der Kunsterfahrung, aber auch des Sich-selbst-als-Mensch-Erfahrens. Orte, wo der Wirklichkeitssinn auf den Möglichkeitssinn trifft, auf Fantasie und Imagination. Auch das gehört, gerade in schwierigen Zeiten, zur Immunabwehr. Sie als Freizeiteinrichtungen zu behandeln, wie die Politik das tut, greift zu kurz. In ein Konzert, ins Theater, in die Oper zu gehen, ist für viele Menschen nicht nur eine Freizeitaktivität, sondern eine Seinstechnik. Es gehört für sie notwendig zu einem sinnvollen Leben dazu. Der Deutsche Kulturrat verweist überdies auf den Bildungsaspekt von Kunst und Kultur und verlangt mit Blick auf mögliche weitere Einschränkungen zur Omikron-Abwehr, sie "wie Bildungseinrichtungen als Lernorte zu behandeln und offenzuhalten".

Man muss Bühnen gar nicht zu Volkshochschulen erklären, um mit gutem Grund zu fordern: Jetzt nicht noch mal ein Lockdown für die Kultur! Natürlich kann man die Kultur kaputt machen und für verzichtbar erklären. Dann ist das Leben halt armselig und schal. Man kann sie aber auch, wie die neue Bundesregierung es vorhat, als Staatsziel im Grundgesetz verankern. Das wäre ihrem Stellenwert angemessen.

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